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Liebe dich selbst wie deinen Nächsten

Beim Lesen der Überschrift haben einige von euch vermutlich als erste Reaktion die Stirn gerunzelt. Die bekannte und richtige Version lautet schließlich „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (u.a. Markus 12,33).

 

Ich glaube jedoch, dass die Umkehrung „Liebe dich selbst wie deinen Nächsten“ keinesfalls falsch ist, sondern vielmehr einen Aspekt des Gebotes zum Vorschein bringt, den viele von uns (mich eingeschlossen) oft übersehen.

 

Doch warum kommt uns die Idee, uns selbst zu lieben, auf den ersten Blick so falsch vor?

 

 

Eine einseitige Anleitung

 

Das Gebot der Nächstenliebe ist ein Kernaspekt der Lehre Jesu. Wir finden eine Vielzahl  von Stellen, in denen er uns erklärt, wie diese Liebe aussieht, die wir füreinander haben sollen.

 

Zum Beispiel beschreibt er in der Bergpredigt, dass wahre Nächstenliebe sogar bedeutet, seine Feinde zu lieben:

„Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde, und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters seid, der in den Himmeln ist! Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ (Matthäus 5,43-45)

Dass Nächstenliebe keinen Einschränkungen unterliegen sollte, zeigt Jesus auch im Gleichnis des barmherzigen Samariters in Lukas 10 auf die Frage hin, wer denn unser Nächster ist.

 

Als Petrus ihn fragt, wie oft er einem Bruder vergeben soll, der gegen ihn sündigt antwortet Jesus Folgendes:

„Ich sage dir: Nicht bis siebenmal, sondern bis siebzigmal siebenmal!“ (Matthäus 18, 20)

Und auch außerhalb der Evangelien finden wir in den weiteren Büchern des Neuen Testaments viele Stellen, die uns zeigen, wie Nächstenliebe in der Umsetzung aussieht.

 

Eine der bekanntesten Stellen ist sicherlich der Beginn von 1. Korinther 13, auch genannt das „Hohelied der Liebe“, welches die verschiedenen Eigenschaften der Liebe beschreibt:

„Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig, sie neidet nicht, die Liebe tut nicht groß, sie bläht sich nicht auf, sie benimmt sich nicht unanständig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet Böses nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit; sondern sie freut sich mit der Wahrheit, sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie erduldet alles.“ (1. Korinther 13,4-7)

 

Darüber hinaus gibt es noch eine Vielzahl weiterer Beispiele, die sich mit Nächstenliebe auseinandersetzen und uns Hilfestellungen für einen liebevollen Umgang mit unseren Geschwistern und Mitmenschen geben.


Wofür man jedoch wenig Hilfestellung findet, ist diesen liebevollen Umgang auch bezogen auf sich selbst umzusetzen und diese Liebe, die wir für andere haben sollen, auch auf sich selbst anzuwenden. Doch warum ist das so?

 

Vermutlich liegt es daran, dass dieses Wissen vorausgesetzt wurde. Jesus bezieht sich mit dem Zusatz "wie dich selbst" auf etwas, was seinem Publikum bekannt war und was ihnen wahrscheinlich leichter gefallen ist, als ihren Nächsten zu lieben. Der Gedanke, seinen Nächsten so sehr zu lieben wie Jesus gefordert hat, war für einige Zuhörer wahrscheinlich revolutionär.


Doch ich kenne heute auch einige Menschen, für die es ein ebenso revolutionärer Gedanke sein kann, sich selbst so zu lieben und anzunehmen wie die Bibel es sie bezogen auf ihren Nächsten lehrt. In diesem Fall kann die Umkehrung "Du sollst dich selbst lieben wie deinen Nächsten" die hilfreichere Form des Gebotes sein - und dabei meiner Meinung nach keineswegs eine Verdrehung der Bedeutung.



 

2 + 2 = 4

 

Der Zusatz „Wie dich selbst“ ist glaube ich weder ein Beispiel auf das Jesus sich beruft noch zwingend eine Art Voraussetzung für die Nächstenliebe. Meine Vermutung ist, dass er vielmehr ausdrücken soll, dass wir unseren Nächsten im Optimalfall genauso sehr lieben sollen wie uns selbst. Es geht um ein Gleichgewicht und keine Seite sollte zum Nachteil der anderen überwiegen.

 

Auch wenn die Variante "Du sollst dich selbst lieben wie deinen Nächsten" ungewohnter klingt, drückt sie somit doch das gleiche aus. Genauso wie 2 + 2 = 4 das gleiche aussagt wie 4 = 2 + 2.

 

Je nachdem, ob dieses Gleichgewicht bei uns gerade besteht oder nicht, kann uns die eine oder andere Ausdrucksweise des Gebots mehr oder weniger helfen.

 

Das Publikum, vor dem Jesus gesprochen hat, hatte offenbar den Fokus zu sehr auf sich selbst gelegt und ihre Nächstenliebe hat darunter gelitten, dass sie sich selbst als Priorität betrachtet haben und sich selbstgerecht als Richter ihres Nächsten aufgespielt haben.

 

Nicht jeder, der diese Stelle liest, wird jedoch das gleiche Problem haben. Zumindest nicht zu jedem Zeitpunkt. Wie bei so vielen Dingen geht es um eine Balance, die sehr leicht aus dem Gleichgewicht gerät – mal überwiegt die eine, mal die andere Seite. Manchmal haben wir Probleme damit, unser eigenes Ego zu überwinden, um den Menschen um uns herum mit der nötigen Liebe zu begegnen. Manchmal verlernen wir aber auch einen liebevollen Blick auf uns selbst und tun uns schwerer damit, uns selbst zu vergeben als anderen.

 

 

Wie uns selbst, nicht anstatt uns selbst

 

Ich denke, immer wenn die Nächsten- oder Selbstliebe in einem ungesunden Maß überwiegt, zeigt es sich darin, dass der Gegenpart darunter leidet. Wenn ich zum Beispiel so davon überzeugt bin, im Recht zu sein, dass ich beginne auf mein Gegenüber herabzuschauen anstatt ihm in Demut zu begegnen. Aber auch, wenn ich so auf den anderen und seine Bedürfnisse fixiert bin, dass ich beginne, meine eigenen Grenzen nicht mehr zu respektieren.

 

Wenn uns die Bibel vor Selbstliebe warnt – und das tut sie an vielen Stellen – dann meint sie damit meiner Meinung nach eine übertriebene Form der Selbstliebe wie Egoismus, Narzissmus, Selbstgerechtigkeit usw. Doch eine gesunde Beziehung zu sich selbst sollte nicht mit diesen Dingen verwechselt werden.


Ein Beispiel hierfür ist folgende Stelle aus dem Brief an die Philipper:

"so erfüllt meine Freude, dass ihr dieselbe Gesinnung und dieselbe Liebe habt, einmütig, eines Sinnes seid, nichts aus Eigennutz oder eitler Ruhmsucht tut, sondern dass in der Demut einer den anderen höher achtet als sich selbst; ein jeder sehe nicht nur auf das Seine, sondern ein jeder auch auf das der anderen!" (Philipper 2,2-4)

 

Paulus warnt hier davor, nur auf sich selbst zu schauen und die Demut gegenüber den anderen zu verlieren. Doch sagt er am Ende nicht, man solle sich selbst völlig verneinen und nur auf den anderen achten. Nein, er sagt, man solle "nicht nur auf das Seine, sondern ein jeder auch auf das der anderen" achten. Es geht nicht um "A anstatt B", sondern um "A und B". Den anderen lieben wie sich selbst - nicht anstatt sich selbst.



Wie Gott uns liebt


Die Nächstenliebe zu der wir aufgerufen sind, sollte ein Spiegelbild der Liebe sein, mit der Gott die Menschen liebt. Ich habe schon öfter in meinen Beiträgen davon geschrieben, dass es mir in der Umsetzung manchmal hilft, zu versuchen die Menschen um mich herum mit Gottes Augen zu sehen.


Ich versuche mir vorzustellen, was Gott in den Menschen sieht. Dass er zwar ihre Fehler sieht, aber sie deswegen nicht verurteilt. Dass er ihr Bemühen anerkennt, auch wenn vielleicht nicht immer das richtige Ergebnis dabei herauskommt. Dass er uneingeschränkt das Beste für sie möchte und sich wünscht, eine Beziehung zu ihnen zu haben.

 

Doch sobald ich versuche, mich selbst mit Gottes Augen zu sehen, verzweifle ich oft an dieser Aufgabe. In diesen Momenten ist es für mich wertvoll, mich daran zu erinnern, dass ich nicht nur dazu aufgerufen bin, meinen Nächsten zu lieben, sondern auch mich selbst. Dass ich mir vergeben darf, auch wenn ich siebzigmal siebenmal den gleichen Fehler mache. Dass ich die Liebe, die Gott mir schenkt, annehmen darf.

 

Denn auch Gott liebt nicht meinen Nächsten anstatt mir, sondern uns beide gleichermaßen. Und ich denke, wenn wir dem Gebot der Nächstenliebe in Gänze folgen wollen, dann sollten wir das auch tun.



Bis zum nächsten Mal!

Eure Lea

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