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AutorenbildDaniel

Grenzen kennen

Dieser Beitrag könnte hoch psychologisch von persönlichen Grenzen, von Beziehungsgrenzen, von Selbstachtung oder von drohendem Burnout handeln. Tut er aber nicht. Dieser Beitrag handelt von etwas viel, viel simplerem: Von Landesgrenzen. Genau gesagt, von der Grenze zwischen Deutschland und den Niederlanden.


Vielleicht ist es so ein Generationen-Ding: Wenn ich innerhalb von Europa reise, dann denke ich so gut wie nie über Grenzen nach. So richtige Grenzen gibt es ja auch an den wenigsten Stellen. Und solang ich meinen „Perso“ dabei habe, kann ich mich ja eh bewegen, wohin ich will. Ich weiß: Das war nicht immer so. Aber für mich ist es Stand der Dinge, solange ich denken kann. Wenn es obendrein nicht in die entlegensten Ecken den Schengen-Raums, sondern nur nach nebenan – nach Holland – geht, wo manch einer kurz mal Samstags zum Shoppen hin fährt, dann fühlt es sich erst recht nicht an, als wäre da eine große, offizielle Grenze zu überwinden.


Mit dieser Einstellung haben wir vorletzten Freitag zu Hause unsere Koffer gepackt. Zwei Wochen Urlaub in der Nähe vom IJsselmeer – da muss man an einiges denken. Leider hatten wir auch tagsüber noch einige Termine und konnten erst spät abends mit dem Packen beginnen. Gegen 23:30 hatten wir dann alles beisammen. Ich saß auf dem Sofa und ging in Gedanken noch mal durch, ob wir auch wirklich alles Wichtige dabei hatten. Da wir mit dem eigenen Auto fahren wollten, warf ich zudem noch schnell einen Blick auf die allgemeinen Hinweise des ADAC bezüglich den Niederlanden: Tempolimits, besondere Verkehrszeichen, etc. Ich wollte einfach sichergehen, dass mich hinter der Grenze keine bösen Überraschungen erwarten.



Und da kam mir der Gedanke: Hinter der Grenze … wir müssen über die Grenze … brauchen wir eigentlich Pässe? … Nein … wir haben ja unsere Personalausweise … und wir hätten sogar Reisepässe … aber … was ist eigentlich mit den Kindern???


Da saß ich auf dem Sofa, Freitagabend um 23:30 und erkannte: Wir wollten am nächsten Morgen früh in den Urlaub fahren und unsere Kinder (2 und 4) hatten keine Ausweise …


Ich ging zu Lisa und eröffnete mit einem vorsichtigen „Du musst mir versprechen, jetzt nicht auszuflippen …“. Wir zückten sofort beide unsere Handys und keine 10 Sekunden später hatten wir die Gewissheit: Jeder, egal wie jung, der über die Grenze will, braucht einen Ausweis. Mit Lichtbild! Natürlich waren direkt an der Grenze nicht wirklich Kontrollen zu erwarten, doch ein paar Minuten später hatten wir genug über die Probleme ergooglet, in einem fremden Land nicht nachweisen zu können, dass die zwei Mädchen, mit denen wir unterwegs sind, auch wirklich unsere Kinder sind, um zu wissen, dass Reisen ohne Pässe ganz sicher kein Risiko war, das wir eingehen wollten.


Was konnten wir also tun? Es war Freitag Nacht und wir wollten am nächsten Morgen losfahren. Selbst wenn wir nicht direkt morgens losfahren würden – woher sollte man an einem Samstag amtliche Lichtbildausweise bekommen? Noch eine Internetrecherche später hatten wir einen Hoffnungsschimmer in Form der Bundespolizei gefunden. Diese kann Notfalldokumente ausstellen. Während wir allerdings die notwendigen Online-Formulare ausfüllten, wurde uns klar: Das geht wohl nur, wenn dabei irgendein abgelaufenes Dokument vorliegt (Kinderpass, Reisepass, …). Das hatten wir aber nicht. Alles was, wir hatten, waren zwei Geburtsurkunden.


Kleiner Zeitsprung zum nächsten Morgen (nach einer Nacht mit sehr wenig und obendrein schlechtem Schlaf): Nach einem kurzen Telefonat mit der Bundespolizei hatten wir die traurige Einsicht, dass man dem Internet offenbar doch ab und zu trauen kann – keine Chance auf Dokumente von der Bundespolizei.

Aber da fing das Wunder an.


Völlig entmutigt von der neuen Erkenntnis, dass wir einen guten Teil der Koffer nun wieder auspacken könnten, nahm ich ein letztes Mal mein Handy, um zumindest zu recherchieren, wann wir nach dem Wochenende realistisch damit rechnen konnten, einen Termin beim Amt zu bekommen. Auch hier zunächst komplette Ernüchterung. Öffnungszeiten: Montags bis freitags sowie samstagvormittags NUR MIT TERMIN. Nächster freier Termin: In 4 Wochen. Ich hatte das Handy schon fast weggelegt, als es mich blitzartig durchfuhr: Samstagvormittag geöffnet??? Welche Behörde hat denn Samstagvormittag geöffnet??? Ich hatte so wenig damit gerechnet, dass ich es beinahe überlesen hätte.


Es gab also einen neuen Hoffnungsschimmer, wäre da nicht der Zusatz „NUT MIT TERMIN“ gewesen. Egal! Letzte Chance! Wir zogen schnell die Kinder an, griffen unser Stammbuch, stiegen ins Auto und waren noch vor Öffnung um 9 Uhr beim Amt. Wir stellten uns zu ein paar anderen Leuten in die kleine Schlange vor der Tür, die sich bereits gebildet hatte. Alle anderen hatten offensichtlich einen Termin und die Terminbestätigung neben anderen Papieren sehr präsent in der Hand. Wir hatten nichts – außer ordentliche Magenkrämpfe vor Aufregung. Die wurden nicht besser, als ich mich leicht zittrig vor Nervosität umblickte und an gleich mehreren Stellen um die Eingangstür herum erneut in roten Großbuchstaben die selbstgedruckten Schilder saß: „EINTRITT NUR MIT TERMIN“. Na toll, man durfte also ohne Termin nicht einmal das Gebäude betreten …


Ich weiß nicht, wann ich mich das letzte Mal so unwohl gefühlt habe. Mir war übel, ich hatte ein beklemmendes Gefühl in der Brust aber ich wusste, dass hinter dieser Tür unsere einzige Chance lag, doch noch unseren lang ersehnten, bitter nötigen und bereits bezahlten Urlaub anzutreten. Trotzdem fühlte es sich irgendwie fast kriminell an, hier gerade zu stehen.


In meinem Kopf stellte ich mir vor, was wir wohl drinnen (sofern wir denn überhaupt rein kommen würden) zu hören bekommen würden: „Was fällt Ihnen ein, hier einfach ohne Termin aufzutauchen? Können Sie nicht lesen?? Was denken Sie, wer Sie sind, dass sie hier einfach hereinspazieren, wo andere wochenlang auf einen Termin warten und dann auch noch meinen, sie würden einfach so dran kommen? Gehen Sie nach Hause und machen Sie einen Termin, wie jeder andere anständige Bürger auch! Es ist ja nicht unsere Schuld, dass Sie offenbar nicht in der Lage sind, sich rechtzeitig vor ihrer Reise über die Bestimmungen zu informieren!“

Ich wurde von einem plötzlich auftauchenden Schatten aus meinen Gedanken gerissen. Da kam jemand, um aufzuschließen. Eine Frau. Sah eigentlich ganz freundlich aus …


Die Tür schwang auf und die Frau ließ die ersten „Kunden“ hinein. Ich gab Lisa und den Kindern einen leichten Schubs und wir reihten uns einfach in die Schlange ein. Leise flüsterte ich Lisa, die etwas unsicher wirkte, zu: „Auf keinen Fall stehen bleiben!“. Und so passierten wir die erste Hürde ohne Probleme. Wir waren drin! Dort drin, wo wir eigentlich ohne Termin nicht sein sollten. Ich hatte in der Vergangenheit schon einmal erlebt, dass am Eingang die Terminbestätigungen verlangt wurden – nicht diesen Samstagvormittag.


Wir nahmen die Kinder an die Hand und folgten einer Frau mit ihrem Sohn, die offenbar auch noch vor dem Urlaub einen neuen Pass abholen wollte – allerdings mit Termin. Mit dem Aufzug fuhren wir in den dritten Stock. Während wir zum Wartebereich liefen, besprachen Lisa und ich kurz, wer von uns sich nun die Blöße geben würde und zum Schalter gehen, um unser Anliegen zu schildern. Letztendlich meldete ich mich halb freiwillig, halb aus Anspannung heraus, in der ich zwar große Angst hatte vor dem eventuell auf mich wartenden Einlauf, aber mich dann doch wohler fühlte, selbst die Kontrolle zu behalten über was auch immer passieren würde.


Ich ließ Lisa und die Kinder bei den Stühlen im Wartebereich und machte mich auf zur aktuell noch unbesetzten Information. Als ich diese fast erreicht hatte, überholte mich eine Person, die offenbar gerade kam, um sich hinter den Tresen zu setzen. Es war die freundlich wirkende Frau, die kurz vorher die Tür aufgeschlossen hatte. Das gab mir irgendwie neuen Mut.


Ich stellte mich vor die Information und machte auf mich aufmerksam. Nicht damit rechnend, dass gerade mal eine Minute nach Einlass schon jemand eine Frage haben könnte, guckte die Mitarbeiterin mich etwas verwundert an. Was dann passierte, hätten viele sicher als unglaubliches Glück beschrieben. Aber ich hab sofort gefühlt: Hier hat Gott gewirkt! Es lässt mich immer noch staunend den Kopf schütteln, jetzt, wo ich das hier schreibe.


Etwas verlegen fing ich an zu stammeln: „Guten Tag … Es ist mir wirklich sehr unangenehm, aber meine Frau und ich wollen heute mit unseren Kindern in den Urlaub fahren … und wir haben keine Papiere für die Kinder.“ Die Frau hinterm Tresen sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. Dann fing sie kurzzeitig an nach Luft zu schnappen. Kennt ihr das, wenn man so in einen Film versunken ist, dass man an der spannendsten Stelle alles um sich herum vergisst und so mit dem Protagonisten mitfiebert, dass man manchmal unwillkürlich Laute des Entsetzens oder des Anfeuerns ausstößt? Ungefähr so hat die Frau vom Amt reagiert.


„Oh … eh … das … ähm … wo wollen Sie denn hinreisen?“

„In die Niederlande.“

„Oh, das ist gut! Das ist gut!“ Die Frau atmete kurz durch und ließ sich etwas entspannter in ihren Stuhl zurücksinken, auf dessen Kante sie kurz vorher gerückt war. „Gut, wie machen wir das … dann geben Sie mir am besten erst mal ihr Geburtsdatum.“


Ich gab all meine Daten an und kurz darauf hatte die Beamtin sowohl mich als auch meine Kinder in der Datenbank gefunden. Sie setzte noch einmal an: „Ihre Frau ist auch da? Ah ja, da hinten sehe ich sie, richtig? Dann …“ In diesem Moment klingelte das Telefon. Da die Lautstärke recht hoch eingestellt war, konnte ich Fetzen von dem verstehen, was am anderen Ende gesagt wurde. In einem der vielen Zimmer wartete wohl eine Kollegin seit mehreren Minuten auf einen „Kunden“, dessen Terminnummer sie aufgerufen hatte, der aber offensichtlich nicht erschienen war. Jetzt fragte sie an der Information, ob man irgendetwas wüsste. Die Augen der Frau am Tresen weiteten sich erneut: „Sag mal, wenn dein Termin nicht gekommen ist … hättest du dann kurz Zeit? Ich hab hier eine Familie ohne Termin, die wollen heute in den Urlaub fahren und haben keine Ausweise für ihre Kinder … Ja … Ja, alles klar. Danke dir!“.


Die Frau am Tresen legte auf und teilte mir das Unglaubliche mit: Wir könnten direkt durchgehen in Zimmer 8, da dort jemand nicht zu seinem Termin erschienen war. Das war mehr als Glück! Nicht nur, dass gegen jede Erwartung ein Amt am Samstagvormittag offen hatte und wir ohne Termin und ohne Terminkontrolle eintreten konnten … jetzt hatte auch noch in genau dem Augenblick, als ich schamerfüllt und von meiner eigenen Dummheit im Boden versinkend am Schalter mein Anliegen vortrug, ein anderer Besucher seinen Termin nicht wahrgenommen und uns so die absolut unwahrscheinliche Möglichkeit gegeben, nicht nur nicht abgewiesen, sondern direkt durchgewunken zu werden. Hallelujah! Genau im richtigen Moment an unserem absoluten Tiefpunkt. Was soll man dazu sagen? Ein richtiges Wunder!


Die nächsten Minuten lassen sich schnell zusammenfassen: Wir kamen von der sehr netten Frau am Empfang zu einer nicht weniger netten und hilfsbereiten Kollegin, die uns nach kurzer Absprache die nötigen Formulare vorlegte. Um den Antrag zu vervollständigen, brauchte es dann nur noch die alles entscheidenden Passbilder. Die konnten wir wiederum im Wartebereich am Automaten erstellen lassen, wo uns erneut sehr freundlich geholfen wurde. Da unsere Mädels so perfekt mitgemacht haben, hielten wir nur wenige Minuten später und nach Station in einem letzten Zimmer zwei vorläufige Personalausweise mit anforderungsgerecht-hässlichen Bildern unserer Kinder in den Händen und hatten vor Glück Pippi in den Augen hatten. Einfach so gesegnet alles!


Was ich euch auch nicht vorenthalten möchte: Als wir auf dem Weg zum letzten Zimmer waren, kam uns noch einmal die Frau von der Information entgegen und fragte mit gedrückten Daumen und hochgezogenen Augenbrauen: „Hat alles geklappt?!“ Ja, es hatte geklappt! Und nicht nur das: Entgegen allen Erwartungen, waren wir zu keinem Moment auch nur im Ansatz dafür gerügt worden, dass wir einfach gegen alle Regeln unser Glück versucht hatten. Im Gegenteil: Alle Beteiligten an diesem Samstagvormittag waren überaus freundlich und hilfsbereit gewesen! Danke Gott! Das war mehr, als wir uns hätten träumen lassen! :)


Heute sitze ich in unserer Ferienwohnung, gucke aus dem Fenster in den Garten und auf den dahinterliegenden Bootsanleger und Kanal und kann immer noch nicht so recht begreifen, was uns da vorletzten Samstag passiert ist. Zurück am Auto haben wir uns übrigens erst mal alle an die Hände genommen und gebetet und Gott gedankt für dieses total überwältigende Geschenk. Und dann haben wir auch noch beschlossen: Wir werden nie wieder etwa Negatives über die deutsche Bürokratie sagen! Dafür wollen wir aber bei Gelegenheit ein bisschen Schokolade vorbei bringen – sofern wir überhaupt noch mal rein kommen … ohne Termin.


Ich hoffe, diese Geschichte malt euch genauso ein Lächeln ins Gesicht wie mir :) Und ich hoffe außerdem, dass ihr diese Woche auch so stark wie wir spürt, dass Gott da ist, wenn ihr ihn braucht – selbst wenn ihr aufgrund eures eigenen Dusels in der Klemme steckt! Und falls bei euch auch noch Urlaub anstehen sollte, dann nehmt diesen überaus hochtrabend klingenden Rat mit, der aber manchmal ganz pragmatisch gemeint sein kann: Es ist gut, seine Grenzen zu kennen! Zumindest die zum Nachbarland ;)


Gottes Segen und bis zum nächsten Mal!

Euer Daniel


1 Kommentar

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Guest
Jul 22, 2024

Daniel! Vielen Dank, dass Du diese Geschichte mit uns geteilt hast! Das ist mal ein Mutmacher!! Sowas von!!!


LG Marco

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