Schon seit längerer Zeit beschäftigt mich ein Begriff, den ich in einer meiner Lieblingssendungen im Fernsehen aufgegriffen habe. An jedem Donnerstag gibt es bei 3SAT eine Gesprächsrunde mit dem Journalisten und Philosophen Gert Scobel, jeweils um 21:00 Uhr und für mich absolut sehenswert, weil es in diesen Gesprächsrunden um wirkliche thematische Auseinandersetzungen geht, statt wie in den vielen Talkshows, um Selbstdarstellungen der Anwesenden.
Der Begriff, um den es mir geht, ist ein wahres Wortungetüm, noch dazu im Deutschen nicht wirklich Teil des alltäglichen Sprachgebrauchs. Ich habe auch lange überlegt, ob ein solches Thema überhaupt zur Überschrift unseres Blogs passt, denn es ist zunächst alles andere als „einfach“.
Nun – genug der Vorrede – der Begriff, über den ich heute einige Gedanken mit Euch teilen möchte lautet:
„Ambiguitätstoleranz“
What?
Zunächst zur Wortherkunft: ein zusammengesetzter Begriff aus dem Lateinischen: „ambiguitas = Mehrdeutigkeit“ und „tolerare = erdulden oder ertragen“.
Aus der Vielzahl der zu findenden Begriffserklärungen habe ich mal eine ausgewählt, die mir einfach und verständlich erscheint:
„Ambiguitätstoleranz beschreibt die Fähigkeit von Menschen, unsichere, unklare, mehrdeutige oder widersprüchliche Situationen neutral, vorbehaltlos und offen wahrzunehmen und trotz dieser Ungewissheiten souveräne Entscheidungen zu treffen.“ https://www.hrjournal.de/resilienz-ambiguitaetstoleranz-fuehrungskraefte
Damit beschreibt der Begriff eine Fähigkeit, die wir alle in einer ständig als immer komplexer wahrgenommenen Wirklichkeit immer mehr bräuchten, die aber gleichzeitig offenbar immer mehr verloren geht. Das wird vielleicht am deutlichsten, wenn man sich den Gegensatz zu Ambiguitätstoleranz ansieht. Der Gegensatz ist „Radikalität“. Ein Phänomen, das uns im gesellschaftlichen und politischen Umfeld zunehmend begegnet. Populisten und Autokraten erfüllen zunehmend den Ruf nach einfachen Antworten auf die komplexen Probleme unserer Zeit. Radikalität macht das Leben vermeintlich einfach: schwarz/weiß, richtig/falsch, wir/die anderen, sind die Ausprägungen, die allerdings leider wohl keine Problemlösungen bieten. In der Psychologie gibt es (wie ich gelernt habe) sogar den Ausdruck der „Ambiguitätsamplifikation“, will sagen: je größer die Komplexität, desto stärker die Vereinfachung.
Das war jetzt zugegeben einiges an theoretischer Zumutung, und sicher ist es auch hier erstmal einfach, mit dem Finger auf „die Welt“ zu zeigen. Wenn wir unser Verhalten aber mal unter die Lupe nehmen, stellen wir fest, dass sich die Widersprüchlichkeit bei jedem von uns im Alltag auf die ein oder andere Weise zeigt. An einigen Stellen geht es auch gar nicht ohne Widersprüchlichkeit. Hier ein paar Beispiele als reine Aufzählung zum selbst ergänzen:
mit dem Auto zum Biomarkt zum Einkaufen
Elektromobilität trotz Wissen um die Zustände der Rohstoffgewinnung bei Batterien
alle lieben Tiere doch die meisten essen immer noch billig produziertes Fleisch
alle sind für faire Arbeitsbedingungen, aber der Anteil an Wegwerfkleidung steigt ständig
seit Jahrzehnten postulieren wir die Bekämpfung von Kinderarmut, trotzdem steigt sie stetig
alle sind für Nachhaltigkeit, aber bitte ohne Verhaltensänderung
…
Das nennt man die „Kluft zwischen Einstellung und Verhalten“, die es wohl bei jedem von uns gibt.
Soweit mal der Blick auf die Gesellschaft, in der wir leben. Selbstverständlich habe ich mich aber natürlich gefragt, was denn diese „Ambiguitätstoleranz“ (das Wort kann ich nicht mal flüssig tippen) für uns gläubige Menschen bedeutet und wie das nun zum Namen unseres Blogs „leben einfach biblisch“ passt.
Beginnen möchte ich mit dem Blick auf unser Zusammenleben als Gemeinde. Gestolpert bin ich dabei über ein Zitat, das ich wiederum in einem Aufsatz zum Thema gefunden habe:
„In der Gesellschaft wird die im Kern auf mangelndem Selbstwert beruhende Überzeugung: „Ich habe immer Recht, ich bin besser“ durch den Gruppendruck der Gleichgesinnten verstärkt. Das grenzenlose Internet, der mangelnde Halt in ex-und-hopp-Familien, sowie in ständig umstrukturierten Organisationen verunsichert viele Menschen derart, dass sie ihre Fähigkeit, differenziert zu denken verlieren. Ist ihre Ambiguitätstoleranz instabil, müssen sie sich innerlich schützen und fordern dann nur noch simple Botschaften, reine Gruppen, saubere Unterscheidungen, klare Verhältnisse und eindeutige Grenzen.“ https://www.deutschlandfunkkultur.de/mangel-an-ambiguitaetstoleranz-der-fatale-wunsch-nach-100.html
Ich hoffe, beim Lesen dieser Worte könnt ihr Euch denken, wohin ich möchte.
Bevor ich das vertiefe, zuerst noch ein kleiner Exkurs (sorry!): Schaut mal bei Wikipedia unter dem Begriff „Mehrdeutigkeit“ nach. Hier gibt es eine Fülle von Beispielen die zeigen, wie mehrdeutig Sprache sein kann.
Sowohl das gesprochene Wort:
„Das Auto wird das Hindernis umfahren.“ Je nach Betonung der ersten oder zweiten Silbe von „umfahren“ ergeben sich zwei Bedeutungen. Entweder (erste Silbe betont), das Auto fährt das Hindernis um, oder der zweiten Silbe: Das Auto fährt um das Hindernis herum.
Als auch das Geschriebene:
„Die Hunde lieben ihre Schafe ebenso wie ihr Herrchen.“ Entweder beide, die Hunde und ihr Herrchen lieben die Schafe oder die Hunde lieben sowohl die Schafe als auch das Herrchen.
Diese Probleme der Sprache sind es übrigens, die KI-Systeme wie ChatGPT verzweifeln lassen.
Kommen wir aber zum Thema zurück: simple Botschaften, reine Gruppen, saubere Unterscheidungen, eindeutige Grenzen, etc. So lassen sich auch die Worte aus dem Epheserbrief gebrauchen:
„Ich ermahne euch nun, ich der Gefangene im Herrn: Wandelt würdig der Berufung, mit der ihr berufen worden seid, mit aller Demut und Sanftmut, mit Langmut, einander in Liebe ertragend! Befleißigt euch, die Einheit des Geistes zu bewahren durch das Band des Friedens: Ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen worden seid in einer Hoffnung eurer Berufung! Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller, der über allen und durch alle und in allen ist.“ (Epheser 4,1-5)
Je nachdem, mit welcher Intention und mit welchem Verständnis man diese Worte liest, können sich völlig unterschiedliche Resultate ergeben. Selbstverständlich kann man das kleine Wörtchen „ein“ als Ausdruck der Abgrenzung gebrauchen (wie so viele andere Stellen auch), aber genauso gut kann es im Sinne der „Ambiguitätstoleranz“ verstanden werden als der Aufruf, den einen Leib als ein Sinnbild der „Einheit in Vielfalt“ zu begreifen, weil es eben nur einen Leib gibt. Kommt vielleicht Paulus‘ Beschreibung der Gemeinde als Körper mit sehr unterschiedlichen Organen eher dieser Idee nahe? Insbesondere weil er uns davor warnt, nicht dem Verlangen nachzugeben, die Organe in wesentliche und vernachlässigbare unterscheiden zu wollen?
„Denn auch der Leib ist nicht ein Glied, sondern viele. Wenn der Fuß spräche: Ich bin keine Hand, darum gehöre ich nicht zum Leib, so gehört er deswegen nicht weniger dazu! Und wenn das Ohr spräche: Ich bin kein Auge, darum gehöre ich nicht zum Leib; so gehört es deswegen nicht weniger dazu! Wäre der ganze Leib Auge, wo bliebe das Gehör? Wäre er ganz Ohr, wo bliebe der Geruch? Nun aber hat Gott die Glieder, jedes einzelne von ihnen, so am Leibe gesetzt, wie er gewollt hat. Wenn aber alles ein Glied wäre, wo bliebe der Leib? Nun aber gibt es viele Glieder, doch nur einen Leib. Das Auge kann nicht zur Hand sagen: Ich bedarf deiner nicht, oder das Haupt zu den Füßen: Ich bedarf euer nicht! Vielmehr sind gerade die scheinbar schwächeren Glieder des Leibes notwendig, und die wir für weniger ehrbar am Leibe halten, die umgeben wir mit desto größerer Ehre, und die uns übel anstehen, die schmückt man am meisten; denn die uns wohl anstehen, bedürfen es nicht. Gott aber hat den Leib so zusammengefügt, dass er dem dürftigeren Glied um so größere Ehre gab, damit es keinen Zwiespalt im Leibe gebe, sondern die Glieder gleichmäßig füreinander sorgen.“ (1. Korinther 12,14-25)
Klingt das nicht nach einem wundervollen Beispiel von Ambiguitätstoleranz (ich fange an, dieses Wort zu lieben)? Und wir sollten dabei besonders auf die Verse 18 und 24 achthaben (meine Hervorhebungen)!
Soweit mal meine Gedanken zum Thema für das Leben als Gemeinde.
Wie sieht es nun bei mir selbst aus mit der „Ambiguität“?
Mir fällt beim Nachdenken über meine eigene Widersprüchlichkeit immer Jesu Aufforderung ein: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber ich liebe mich nun wirklich nicht immer selbst. Da ist so viel falsches Tun, so viele versäumte Gelegenheiten, so viele bewusste oder unbewusste Kränkungen, die ich anderen zugefügt habe. In Augenblicken solcher Selbstreflexion möchte ich wirklich keinem „Nächsten“ zumuten, so von mir geliebt zu werden.
Ich denke, hier kommt jedem auch sofort der Ausspruch des Paulus in den Sinn, der mit schonungsloser Ehrlichkeit die Kluft zwischen Einstellung und Verhalten auf den Punkt bringt:
„Denn ich weiß, dass in mir, das ist in meinem Fleische, nichts Gutes wohnt; das Wollen ist zwar bei mir vorhanden, aber das Vollbringen des Guten gelingt mir nicht! Denn nicht das Gute, das ich will, tue ich, sondern das Böse, das ich nicht will, übe ich aus. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, so vollbringe nicht mehr ich dasselbe, sondern die Sünde, die in mir wohnt. Ich finde also das Gesetz vor, wonach mir, der ich das Gute tun will, das Böse anhängt. Denn ich habe Lust an dem Gesetz Gottes nach dem inwendigen Menschen; ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das dem Gesetz meiner Vernunft widerstreitet und mich gefangen nimmt in dem Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist. Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem Todesleib?“ (Römer 7,18-24)
Würden wir nun an diesem Punkt allein gelassen, wäre das sicher das Ende aller Hoffnung. Aber – und das unterscheidet uns Gläubige vom Rest der Welt – hier bietet uns Gott einen Ausweg, der es uns gelingen lässt, trotz aller Widersprüchlichkeit, die bestehen bleibt, Frieden zu finden und die Welt und das eigene Leben zuversichtlich zu ertragen. Vergebung und Gnade sind die einzigartige Basis, die den christlichen Glauben als einzig wahres Heilsangebot von allen anderen Religionen unterscheidet. In Christus finden wir trotz aller Widersprüchlichkeit Ruhe und inneren Frieden, so wie es Jesus auch dem Paulus zusagt:
„Und er hat zu mir gesagt: Meine Gnade genügt dir, denn meine Kraft kommt in Schwachheit zur Vollendung. Sehr gerne will ich mich nun vielmehr meiner Schwachheiten rühmen, damit die Kraft Christi bei mir wohne.“ (1.Korinther 12,9)
So können wir mit Gelassenheit die zunehmenden Probleme dieser Welt beobachten, ohne an der nicht mehr lösbaren Komplexität zu verzweifeln, ohne den Populisten mit den einfachen Antworten nachzulaufen, weil wir mit Zuversicht auf den warten, der alle Widersprüchlichkeiten auflösen und alle Mehrdeutigkeiten wegtun wird bei seinem Erscheinen, unseren Herrn Jesus, den Gesalbten!
Hallelujah!
Gelobt sei unser Gott!
P.S.: Wer die von mir erwähnte Sendung sehen möchte, hier der Link zur Mediathek:
Foto von Brett Jordan auf Unsplash
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