Letztes Wochenende war ich mit Freunden in Hamburg. Wir hatten einer ehemaligen Kommilitonin und ihrem Mann zur Hochzeit einen Besuch im Escape Room geschenkt und dieses Geschenk sollte nun endlich eingelöst werden. Für die, die sich unter „Escape Room“ nichts vorstellen können: Man wird als kleine Gruppe in einen Raum eingeschlossen, muss Rätsel lösen, Schlüssel finden, Schlösser knacken und am Ende wieder entkommen – oder, wie in unserem Fall, den mysteriösen Geräuschen in einem düsteren, verlassenen Zoo auf den Grund gehen und klären, was dort vor sich geht.
Schon während des Studiums hatten wir viele solcher Räume zusammen gespielt. Und schon damals hatten wir festgestellt, dass Hamburg eine der Hochburgen der deutschen Escape-Szene zu sein scheint. Wenn man im Netz nach Aktivitäten in Hamburg sucht, ist jeder zweite bis dritte Treffer ein Escape Room. Es gibt Räume über das gesamte Stadtgebiet verteilt: an historischen Orten, an Board von Schiffen direkt im Hafen … und auch welche direkt an der Reeperbahn.
Genau hier hin hatte es uns verschlagen. Wir hatten vor einigen Jahren dort bereits einen Raum beim Anbieter Skurrilum gespielt und waren allesamt begeistert gewesen. Es gibt dort zwei sogenannte „Hörspielräume“, in denen man nicht nur in eine packende Geschichte eintaucht, sondern die auch von professionellen Bühnenbildnern mit ausgesprochen viel Liebe zum Detail gebaut wurden und auch erfahrenen Spielern wie uns, mit ihrer verblüffenden Technik ab und zu die Kinderlade runterfallen lassen.
Kurzer Disclaimer – das war keine bezahlte Werbung! Ich stehe in keiner geschäftlichen Beziehung zu Skurrilum 😉. Worauf ich hinaus will, ist: Es war für uns von Anfang an klar, dass wir auch dieses Mal einen Raum bei genau diesem, etwas versteckt in der ersten Etage liegenden Anbieter, direkt am Spielbudenplatz buchen wollten.
Da wir uns für das Hochzeitsgeschenk noch mit einem anderen Paar zusammengetan hatten, war darüber hinaus klar, dass wir gerne nicht nur die Spielgebühr für den Raum, sondern auch drum herum noch einen schönen Tag in Hamburg spendieren wollten. Ein kleiner Snack zum Mittag, eine Aktivität für den Nachmittag und ein leckeres gemeinsames Abendessen mit anschließendem Besuch einer Cocktailbar. Und da das Angebot und die Auswahl für all das in Hamburg riesig ist, hatten wir im Vorfeld einfach beschlossen, den ganzen Tag auf und um St. Pauli zu bleiben. Das schränkte das Angebot wenigstens ein Stück weit ein und es gab trotzdem noch genug zu erleben.
Wir kamen also am Samstagvormittag mit dem Auto in Hamburg an, parkten in einem Parkhaus direkt an der Reeperbahn und traten voller Vorfreude hinaus auf Hamburgs Partymeile Nr. 1. Der Geruch des gestrigen Abends lag noch deutlich in der Luft – der Müll des gestrigen Abends entsprechend auf der Straße und den Gehwegen. Trotzdem wurde schon wieder fleißig für den nächsten Abend vorbereitet. Es herrschte allerorts reges Treiben.
Wir hatten noch etwas Zeit, also schlenderten wir die Straße auf und ab. Auf unserem Weg zum Escape Room kamen wir so am Stage Theater Operettenhaus vorbei, wo aktuell das Erfolgsmusical Hamilton gespielt wird, dann an einem muffigen Kiosk mit ein paar Schnapsleichen vom Vorabend, dann am Wachsfigurenkabinett, an einem Erotikkino, an einem chinesischen Restaurant, an einem auf Lack und Leder spezialisierten Sex-Shop, an diversen Kneipen, mehreren Clubs, in denen gerade gelüftet und geputzt wurde, an einer Wurstbude und schließlich an einem urigen und einladenden kleinen Bäcker, bei dem wir uns ein paar der angeblich besten Franzbrötchen Hamburgs kauften.
Man kann sagen: Wir hatten mit einem 10-Minuten-Spaziergang eigentlich die ganze Essenz der Reeperbahn aufgesogen. Fast zumindest. Auf dem letzten Stück Weg hin zum Escape Room ging es ein paar Stufen hinauf in die erste Etage auf einen kleinen Vorplatz, von dem aus unter anderem der Eingang zu unserem Raum abging. Da wir immer noch mehr als pünktlich waren, war noch kein Mitarbeiter in Sicht und wir mussten noch kurz draußen vor der Eingangstür warten. Als wir dort so standen und uns unterhielten, ließ ich den Blick noch einmal über den Spielbudenplatz schweifen, wo ich kurz darauf bei einem ungewöhnlichen Anblick hängen bliebt. Direkt gegenüber von uns befand sich McDonald’s am Spielbudenplatz. Und direkt über McDonald‘s mehrere Etagen beklebter Fenster mit nackten Frauen und der Aufschrift: GeizClub – Sex 59€.
St. Pauli ist einfach eine eigene Welt. Tabledance Clubs und Prostitution gehören dort genauso zur Tagesordnung wie Theater und Museen. Menschen gehen im Fetisch-Shop einkaufen wie anderswo im Supermarkt. Das ist dort normal.
Für mich ist es jedes Mal aufs Neue ein kleiner Kulturschock. Ja, auch unsere Stadt ist groß genug, um sich ein Mini-Rotlichviertel „zu leisten“. Aber bei uns ist es eine einzige Straße hinter schweren Metalltoren, in die man nicht einfach zufällig hineinstolpert. Auf St. Pauli ist es hingegen auch abseits der Herbertstraße absolut üblich am helllichten Tag große Plakate mit nackten Frauen direkt über McDonald’s, Schaufenster voller Latexmasken, Plüschhandschellen und Peitschen und sogar Auslagen voller Waffen und Elektroschocker (obwohl das Tragen jener Waffen offiziell in diesem Bereich verboten ist) zu sehen. Alles ganz öffentlich, für klein und groß zu bestaunen, wenn man einfach nur die Hauptstraße entlang schlendert. Und mittendrin die Polizeiwache, wo sich Polizistinnen und Nachtclubbesitzer freundlich grüßen.
Das hat mich zum Nachdenken gebracht. Einerseits natürlich darüber, wie ich eigentlich zum Rotlicht-Milieu stehe. Aber auch darüber, wie sehr doch jeder in seiner eigenen Bubble (dt. Blase) lebt. Auf Ersteres will ich hier gar nicht weiter eingehen. Dazu hat denke ich jeder eine eigene Meinung. Aber der zweite Aspekt hat mich schon ein bisschen beschäftigt. Und in der Beschäftigung habe ich auch festgestellt, dass beides doch irgendwie zusammenhängt …
Wie schon erwähnt, haben wir den ganzen Tag auf und um St. Pauli verbracht. Das war eine ganz pragmatische Entscheidung und hatte nichts mit der besonderen „Ausrichtung“ dieses Kiezes zu tun. Als wir an der Reeperbahn ankamen, war eins meiner ersten Gefühle jedoch gleich ein gewisses Unbehagen. Wie offen und unverblümt dort alles auf das Nachtleben und vor allem auf käuflichen Sex ausgerichtet ist, ist mir jedes Mal aufs Neue fremd, auch wenn ich schon einige Male dort war. Aber je länger ich mich auf St. Pauli aufhielt, desto weniger komisch wurde es. Und das hat viele Fragen in mir aufgeworfen.
Die Hamburger auf St. Pauli haben wirklich eine sehr eigenwillige Blase entwickelt. Sexarbeit, Alkohol und dreckige Nachtclubs gehören dort für viele fest zum alltäglichen Leben dazu. Das soll keineswegs heißen, dass jeder fragwürdige Dienstleitungen anbieten oder in Anspruch nehmen würde, aber eben, dass das Nachtleben mit allem, was dort mitschwingt, sehr viele Leute auf die ein oder andere Weise berührt. Ü18-Touren durch die ausgefallensten Bordelle gehören zu den Top-Attraktionen, auch die einfachen Kneipen haben verruchte Namen und der Bäcker bedient verkaterte Junggesellen, die nach Erbrochenem riechen, genauso selbstverständlich wie die Damen aus der Herbertstraße nach dem Feierabend. Selbst unser Spielleiter im Escape Room empfahl uns als nächsten Raum bei ihnen „Guschi’s geile Grotte“ zu spielen – ein Rätsel-Abstecher in die Bordellszene der 80er Jahre.
Ich habe an dem Wochenende das Gefühl bekommen, dass man sich mit der Zeit an das alles gewöhnt. Einige treffen vielleicht bewusst die Entscheidung, dass sie Teil von dem allen werden wollen. Ich vermute aber, dass es den meisten so geht wie auch mir: Je länger man sich auf St. Pauli aufhält, desto normaler erscheint einem alles, was dort vor sich geht. Und für die, die auf St. Pauli zu Hause sind, ist es mit der Zeit einfach ein Teil ihrer Kultur geworden. Ein Teil ihrer ganz besonderen Blase …
Was ist eigentlich meine Blase? Bin ich mir immer bewusst, dass ich auch in einer lebe? Und wie wirkt meine Blase auf Außenstehende? Sind Dinge, die für mich normal und alltäglich sind, nicht auch für andere sehr ungewöhnlich, befremdlich oder sogar unangenehm?
Ich war mal im Rahmen meines Zivildienstes für eine Fortbildung auf einem sehr abgelegenen ehemaligen Kasernengelände untergebracht. Es gab dort Mehrbettzimmer und eines langweiligen Abends sagt mein Zimmergenosse zu mir: „Hast du Lust mal in den Puff im nächsten Ort zu fahren? Da gibt’s 'n kostenloses Buffet.“ Ich wusste erst mal gar nicht, was ich sagen sollte. Natürlich nicht! Diese Frage war für mich so abwegig, dass sie mich komplett überrumpelte und schockierte. Ich habe dann dankend abgelehnt und mich gewundert, was andere Leute doch für ein Leben leben …
Aber wie wäre die Reaktion meines Zimmergenossens ausgefallen, wenn ich ihn gefragt hätte, ob er Lust hätte, mit mir am nächsten Morgen in den Gottesdienst zu kommen? Oder wenn ich am gleichen langweiligen Abend gefragt hätte, ob wir nicht zusammen in der Bibel lesen wollen? Hätte er nicht genauso verdutzt und peinlich berührt reagiert wie ich? Für mich sind das alltägliche Dinge, ein Puff-Besuch allerdings undenkbar und fern ab von meiner Lebenswirklichkeit. Für ihn war es genau andersherum.
„Normal“ ist eben sehr relativ. Und mein Wochenende in Hamburg hat mir das noch einmal eindrücklich vor Augen geführt. Das soll keineswegs heißen, dass sich meine Gedanken z. B. zum Thema Prostitution nachhaltig geändert hätten. Aber mir ist mal wieder klar geworden, dass das, was ich für selbstverständlich, normal oder alltäglich halte, für andere noch lange nichts dergleichen sein muss. Und dass es manchmal vielleicht gar keine bewusste Entscheidung ist, was man als normal oder unnormal betrachtet. Ich selbst musste mich ja nach nur einem Tag auf St. Pauli kurz schütteln und mir klar machen, dass ich vieles, was ich dort gesehen habe, nicht normal finde und auch nicht normal finden möchte.
Trotzdem bin ich genau dadurch ins Nachdenken gekommen. Ich lebe auch in meiner kleinen Blase. Es ist eine gänzlich andere Blase. Aber es ist eine Blase. Und ich glaube es tut gut, immer mal wieder zu versuchen, jemanden in diese Blase einzuladen – als Gedankenspiel, aber natürlich auch ganz real. Nur durch diese Erfahrungen werde ich mir all der verschiedenen Aspekte meiner Blase wohl erst richtig bewusst. Und erst wenn sie mir bewusst sind, kann ich auch mehr Empathie aufbringen für diejenigen, deren eigene Blase kaum oder gar keine Überschneidungen mit meiner Blase hat.
Wenn ich also z. B. das nächste Mal in einem Gespräch von meinem Glauben erzähle, dann mit noch mehr Verständnis dafür, dass die Frage nach einem Gott und seinem Plan für diese Welt für viele Menschen nicht nur nicht alltäglich, sondern vielleicht sogar abwegig oder unangenehm ist.
Und noch etwas habe ich von meinem Hamburg-Wochenende mitgenommen: Ich habe noch größeren Respekt als zuvor dafür, was Jesus in seiner Zeit auf der Erde getan hat. Er ist genau zu den Menschen gegangen, mit deren Blase er kaum Überschneidungen hatte: zu den Zöllnern, zu den Prostituierten, zu den Menschen, auf die alle herabblickten. Im Grunde ist er durch St. Pauli gelaufen, und zwar nicht nur so wie ich auf dem sicheren Gehweg entlang der Hauptstraße, sondern auch dorthin, wo ihm jeder abgeraten hat, hinzugehen.
Und obwohl seine Blase so völlig anders war als die der meisten Menschen, zu denen es ihn besonders hingezogen hat, ist er nicht mit Unverständnis, mit Arroganz oder gar mit Abneigung auf diese Menschen zu gegangen, sondern mit Verständnis und Respekt. Er hat sie nicht von oben herab verurteilt für die Blase, in der sie aus welchem Grund auch immer lebten, sondern er hat ihnen liebevoll angeboten, einen Blick in seine Blase zu werfen und einen Eindruck von seiner Sicht auf die Welt zu bekommen. Er war kein Kreuzritter oder Kolonialist, der jedem Andersdenkenden mit Gewalt seine Blase aufgezwungen hat. Er hat die Menschen dort abgeholt, wo sie waren, und ihnen ein Angebot gemacht, das viele freiwillig und mit Freude angenommen haben.
Es ist leicht, kein Verständnis für irgendeine andere als die eigene Bubble aufzubringen. Es ist leicht, auf andere Menschen und ihre vermeintlich seltsamere, abnormalere oder schlechtere Bubble herabzuschauen. Es ist aber, wie ich selbst erleben musste, auch leicht, in eine fremde Bubble hineinzurutschen, von ihr eingenommen zu werden und die eigenen Werte plötzlich relativiert zu sehen – zumindest temporär. Die Versuchung, sich erst recht in seiner Bubble einzuigeln und jegliche „Bedrohung“ von außen gar nicht erst an sich heranzulassen, ist deshalb groß.
Ich habe an diesem herbstlichen Samstag in Hamburg viel Futter zum Nachdenken bekommen. Darüber, wie ich auf andere Blicke, wie sie im Gegenzug vielleicht auf mich blicken, und inwiefern ich meinen Blick auf mich selbst und auf meine Mitmenschen immer wieder vor diesem Hintergrund hinterfragen sollte. So bekommt man von Gott manchmal unverhofft durch alltägliche, unscheinbare Dinge kleine Schubser, die einen dazu bringen, nicht stehenzubleiben und weiter zu wachsen zu dem Vorbild aller Vorbilder hin – Jesus.
Meist kommen solche Schubser, wenn man am wenigsten damit rechnet. Oft kommen sie auf Wegen, mit denen man nicht rechnet. Und manchmal kommen sie sogar in Form von Sex für 59€.
Gottes Segen und bis zum nächsten Mal!
Euer Daniel
Danke für deine Gedanken.
Und schön dass du so offen bist und dich nicht einigelst sondern den Mut aufbringst raus zu gehen.