Meine letzte Woche war ziemlich anstrengend. Ich war als Trainer tätig (das gehört ab und zu zu meinem Job) und habe erst zwei Tage lang neuen Kollegen unsere Hardware nähergebracht und gleich im Anschluss drei Tage Softwareschulung für Kunden gegeben. Das hieß fünf Tage lang sehr viel reden, Entertainer sein, versuchen, die Zuhörer nicht zu verlieren, und in den Zeiten, wo man nicht selbst Monologe hält, Hilfestellungen geben, Fragen zu beantworten und nicht zuletzt, wie Sherlock Holmes zu ermitteln, wie genau die Teilnehmenden es angestellt haben, in der einen Minute, in der man nicht direkt daneben stand, ihre Software so zu verstellen, dass sie nun die Übung nicht mehr weiter ausführen konnten. Man hat wirklich alle Hände voll zu tun.
Da Trainer sein zudem nicht meine Hauptaufgabe ist, fallen im Laufe so einer ganzen Woche Trainings, außerdem diverse Anfragen zu anderen Dinge an, die mal mehr, mal weniger zeitkritisch eigentlich noch nebenher oder abends nach der Schulung bearbeitet werden müssten. Zum Glück bin ich in der Regel konsequent genug, diese Anfragen liegen zu lassen, bis ich wieder dazu komme, sie ohne viele Überstunden abzuarbeiten. Das klappt nur leider nicht immer.
So gab es diese Woche eine Kollegin aus dem Marketing, die mich durch einen (entgangenen) Anruf und eine Chat-Nachricht (die ich beide zunächst nicht mitbekam) bat, noch irgendwie vor Ende der Woche mit ihr zu sprechen. Tja … wann sollte das sein? Morgens vor dem Training, wo man erst mal alles hochfahren und dann die Kunden in Empfang nehmen muss, von denen man nie genau weiß, wann sie eintrudeln? Oder nach dem Training, wenn der Akku leer ist und zu Hause eigentlich schon das Abendessen wartet?
Da es ihr sehr wichtig schien, möglichst bald mit mir ihr Anliegen besprechen zu können, schlug ich den einzig akzeptablen Kompromiss vor, der mir einfiel: Wir könnten uns Freitag zum Mittagessen in der Kantine treffen. Normalerweise würde ich mit meinen Schulungsteilnehmer gemeinsam essen, aber da es der letzte Tag der Schulung war, waren alle schon vertraut mit den Abläufen und verstanden sich außerdem untereinander so gut, dass ich nicht auch noch in der Pause als Unterhalter benötigt wurde. Ich sagte also meinen Kunden, dass ich heute ausnahmsweise nicht mit ihnen zum Essen gehen würde, erinnerte sie daran, dass es in 45 Minuten weitergehen würde, und schickte sie allein rüber in die Kantine, die nur ein paar Meter entfernt auf der anderen Seite der Eingangshalle unseres Hauptgebäudes liegt.
Während ich aus der Ferne beobachtete, wie meine Schulungsteilnehmer sich einer nach dem anderen bei der Essensausgabe ihrer Wahl anstellten, sich Nachtisch und Getränke nahmen, zur Kasse gingen und sich an unseren reservierten Tisch setzten, stand ich vor dem Eingang zur Kantine und wartete wie verabredet auf meine Kollegin aus dem Marketing.
Es vergingen fünf Minuten. Dann waren es schon zehn. Als ich nach 15 Minuten noch ein letztes Mal zur Galerie im zweiten Stock hochsah, von wo die Kollegin kommen müsste, entschied ich mich, nicht noch mehr Zeit zu verlieren, mir schon mal was zu Essen zu holen und mir einen Platz nahe der Tür zu suchen, wo sich mich sehen würden, wenn sie schließlich doch noch käme.
Als ich kurz drauf mit Fisch und mediterranem Gemüse zurück am Tisch war und begann zu essen, musste ich unweigerlich darüber nachdenken, warum ich wohl immer noch ohne Lunch-Date dasaß. Hatte sie unsere Verabredung vergessen? Nein, das sah ihr nicht ähnlich. Außerdem war sie es ja gewesen, die mich sprechen wollte. Aber was war es dann? Eigentlich hatte ich die Antwort auf diese Frage schon nach den ersten paar Minuten des Wartens gewusst. Die Marketing-Kollegin ist in viele wichtige und hoch aufgehangene Projekte involviert und so war mein Verdacht eigentlich direkt mehr eine Gewissheit: Es gab wohl noch einen anderen Termin, in dem sie feststeckte und aus dem sie sich nicht einfach verabschieden konnte … weil dort wichtigere Personen involviert waren als ich.
Obwohl so etwas natürlich im beruflichen Alltag ganz normal ist, hat es mich doch irgendwie etwas geknickt. Ich wusste noch nicht, worüber sie mit mir sprechen wollte, und wusste dafür umso mehr, dass aktuell wieder viele Marketing-Entscheidungen anstanden, in denen das höchste Management involviert sein würde. Trotzdem musste ich unweigerlich denken: Wäre ich Teil der oberen Management-Ebene, dann würde ich gerade nicht allein essen müssen. Ich hatte nur deshalb den Kürzeren gezogen, weil ich im Vergleich einfach unwichtiger war.
Um eins klarzustellen: Ich mache meiner Kollegin keinen Vorwurf. Es ist alltäglich und ganz normal Termine zu gewichten. In solchen Situationen geht es nicht um Höflichkeit und Zwischenmenschliches – es gibt einfach klare Prioritäten im Sinne der Firma und die arbeiten wir alle der Reihe nach ab. Dabei stehen manche Meetings ganz natürlich weiter oben und andere fallen hinten runter.
Trotzdem oder gerade deshalb musste ich in dieser Situation darüber nachdenken, wie selbstverständlich es im Berufsleben ist, den Ranghöheren Kollegen den Vortritt zu gewähren, während dabei andere den Kürzeren ziehen. Erst vor kurzem hatte es ein großes und wichtiges Freigabe-Meeting mit vielen Beteiligten gegeben, das von meinem Chef vorbereitet worden war und an dem auch ich teilnehmen sollte. Es mussten dafür Wochen im Voraus die Termine vieler „hoher Tiere“ im Unternehmen koordiniert werden, damit sie alle anwesend sein konnten, um unsere Arbeit der letzten Monate abzusegnen.
Ca. zwei Stunden vor dem Termin erfuhr ich dann von meinem Chef, dass das für uns so wichtige Meeting vermutlich ins Wasser fallen würde, da unser Spartenleiter alle beteiligten ranghohen Kollegen zu einem Eskalations-Meeting eingeladen hatte, das unseren Termin einfach überschrieb. Wochen der Koordination und des Bemühens meines Chefs umsonst. Um zu entscheiden, zu welchem Meeting man sich einwählt, ist eben entscheidend, wer eingeladen hat. Und da war selbst mein Chef im Vergleich zu unbedeutend.
Als ich so darüber nachdachte, kamen mir plötzlich vier Worte ich den Kopf. Vielleicht hatte ich sie vor kurzem gelesen, vielleicht kamen sie auch aus den Untiefen meines Gehirns, weil sie so gut zur Situation passten. Die Worte waren: „ .. ohne Ansehen der Person“. Es waren Worte aus der Bibel. Und obwohl ich in dem Moment nicht genau zuordnen konnte, in welchem Kontext sie auftauchten, konnte ich mich doch erinnern, dass sie Gottes Sicht auf uns und seinen Umgang mit uns beschrieben. Eine Sicht und ein Umgang, die ganz anders sind, als das, was man aus dem alltäglichen Treiben kennt.
Inzwischen habe ich nachgeschlagen, woher ich diese Worte kenne. Sie finden sich in meiner Elberfelder Bibelübersetzung an zwei Stellen genau so, wie ich sie im Kopf hatte (Jakobus 2,1 und 1. Petrus 1,17). Das Prinzip dahinter taucht aber an noch deutlich mehr Stellen auf. Bereits im Alten Testament lesen wir in Anweisungen an die Richter Israels von diesem Grundsatz Gottes:
„Ihr sollt im Gericht nicht die Person ansehen; den Kleinen wie den Großen sollt ihr hören.“ (5. Mose 1,17)
„Du sollst das Recht nicht beugen, du sollst die Person nicht ansehen und kein Bestechungsgeschenk nehmen. Denn das Bestechungsgeschenk macht die Augen der Weisen blind und verdreht die Sache der Gerechten.“ (5. Mose 16,19)
Einige Aussagen in den Sprüchen beschäftigen sich ebenso mit dem parteiischen und ungerechten „Ansehen der Person“ (Sprüche 24,23; Sprüche 28,21). Die menschliche Tendenz, seine Mitmenschen anders zu behandeln, je nachdem, wer sie sind und welche Position sie innehaben, ist offenbar schon vor tausenden von Jahren existent gewesen. Und genauso lange hat Gott bereits versucht, dem entgegenzuwirken.
Im Neuen Testament wird das Problem noch einmal besonders brisant. Als sich die ersten christlichen Gemeinden gründeten, kamen in ihnen die unterschiedlichsten Nationalitäten und Kulturen zusammen. Als wäre das noch nicht genug, fanden sich plötzlich Juden und Nicht-Juden in einer Gemeinschaft wieder, die an den Gott glaubte, den die Juden zuvor viele Jahrtausende lang „für sich allein“ gehabt hatten. Konnte es wirklich sein, dass ihr Gott auf einmal keinen Unterschied mehr machte zwischen ihnen und all den anderen Menschen, die ihm noch nicht viele Generationen lang gefolgt waren? Diese Frage adressiert unter anderem Paulus im Brief an die Römer:
„Bedrängnis und Angst über die Seele jedes Menschen, der das Böse vollbringt, sowohl des Juden zuerst als auch des Griechen; Herrlichkeit aber und Ehre und Frieden jedem, der das Gute wirkt, sowohl dem Juden zuerst als auch dem Griechen. Denn es ist kein Ansehen der Person bei Gott.“ (Römer 2,9-11)
Plötzlich mit ehemaligen Heiden in einer Gemeinschaft auf dieselbe Stufe gestellt zu werden, war für viele Juden nicht leicht zu verdauen. Davon lesen wir noch oft in den Briefen des Paulus. Ein etwas anderes und doch sehr ähnliches Problem gab es auch zwischen zwei anderen Gesellschaftsgruppen, die nie zuvor gleichberechtigt an einem Tisch gesessen hatten: In Ephesus hatten die Menschen Schwierigkeiten damit umzugehen, dass nun sowohl Herren als auch deren Sklaven Teil derselben Gemeinde sein konnten. Daher schreibt Paulus an die Epheser:
„Ihr Sklaven, gehorcht euren irdischen Herren mit Furcht und Zittern, in Einfalt eures Herzens, als dem Christus; nicht mit Augendienerei, als Menschengefällige, sondern als Sklaven Christi, indem ihr den Willen Gottes von Herzen tut! Dient mit Gutwilligkeit als dem Herrn und nicht den Menschen! Ihr wisst doch, dass jeder, der Gutes tut, dies vom Herrn empfangen wird, er sei Sklave oder Freier. Und ihr Herren, tut dasselbe ihnen gegenüber, und lasst das Drohen!, da ihr wisst, dass sowohl ihr als auch euer Herr in den Himmeln ist und dass es bei ihm kein Ansehen der Person gibt.“ (Epheser 6,5-9)
Wieder taucht dieselbe Formulierung auf: ohne Ansehen der Person. Viele Menschen scheinen in Laufe der Jahre ein Problem damit gehabt zu haben. Stellt sich also die Frage: Was bedeuten diese vier Worte für mein Leben heute? Was ist meine persönliche Herausforderung dabei?
Weil ich mich trotz allem Verständnis für die Entscheidung meiner Kollegin ein wenig unfair behandelt gefühlt hatte, war mein erster Gedanke: „Ich wünschte, die aus der oberen Management-Ebene würden genauso behandelt wie ich“. Aber beim weiteren Nachdenken wurde mir klar: Das ist genau der falsche Ansatz! Wenn ich überlege, wie ich Gottes Charakter in Bezug auf das Ansehen der Person ähnlicher werden kann, dann sollte „ohne Ansehen der Person“ für mich bedeuten, dass ich mir nicht wünsche, die Top-Manager würden auch nur wie „normale Menschen“ behandelt, sondern dass ich alle anderen Menschen genauso behandele, wie die Top-Manager!
Was war denn der Kontext von „ohne Ansehen der Person“ im alten Israel oder in Ephesus oder Rom? Gott bot zu jeder Zeit jedem Menschen das ultimative Geschenk: Unverdienbare Gnade und ewiges Leben ohne Leid, Traurigkeit oder Tod. Das ist das Größte, was Gott anzubieten hat. Und er bietet es „ohne Ansehen der Person“ jedem an: dem Sklaven und Herren, dem Juden und Nicht-Juden, dem Top-Manager und dem Hausmeister.
Ohne Ansehen der Person im Stile Gottes durchs Leben zu gehen, sollte für mich also nicht bedeuten, alle gleich mittelmäßig zu behandeln, sondern jedem mit den größten Geschenken zu begegnen, die ich geben kann: Liebe und Respekt. Das gilt gegenüber der Putzkraft, die schon vor meinem Arbeitsbeginn mein Büro gesaugt und meinen Schreibtisch abgewischt hat, genauso wie für die Menschen an der Essensausgabe in der Kantine, bis zu meinen direkten Kollegen. Und natürlich auch, aber eben nicht nur, für alle, die noch deutlich weiter oben in der Hierarchie stehen als ich.
Wenn ich also demnächst morgens noch halb schlafend durch die schwere Eingangstür schlurfe und dabei aus dem Augenwinkel sehe, dass ein paar Meter hinter mir noch jemand folgt, drehe ich mich dann um, egal ob es der Geschäftsführer ist oder die nette Frau, die mir morgens mein Frühstücksbrötchen in der Kantine verkauft? Oder wenn in meine Gemeinde ein vielleicht übelriechender obdachloser Pfandsammler kommt und teilhaben möchte … freue ich mich dann über ihn genauso, wie über einen gepflegten Mittelständler, der im BMW vorfährt? Auch diese Frage stellt sich nicht erst mir im Jahr 2023:
„Meine Brüder, habt den Glauben an Jesus Christus, unseren Herrn der Herrlichkeit, ohne Ansehen der Person! Denn wenn in eure Synagoge ein Mann kommt mit goldenem Ring, in prächtigem Gewand, es kommt aber auch ein Armer in unsauberem Gewand herein, ihr seht aber auf den, der das prächtige Gewand trägt, und sprecht: Setze du dich bequem hierher!, und sprecht zu dem Armen: Stehe du dort, oder setze dich unten an meinen Fußschemel! – habt ihr nicht unter euch selbst einen Unterschied gemacht und seid Richter mit bösen Gedanken geworden? […] Wenn ihr wirklich das königliche Gesetz »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« nach der Schrift erfüllt, so tut ihr recht. Wenn ihr aber die Person anseht, so begeht ihr Sünde und werdet vom Gesetz als Übertreter überführt.“ (Jakobus 2,1-4+8-9)
Ich weiß also, wie Jesus sich verhalten würde. An meinem eigenen Verhalten muss ich leider noch arbeiten. Aber so hat es nun doch noch etwas Positives gehabt, beim Mittagessen versetzt worden zu sein. Naja, ganz versetzt wurde ich dann auch nicht. Natürlich war es wie vermutet: Die Kollegin aus dem Marketing hatte in einem wichtigen Termin festgesteckt, kam dann aber doch noch gerade so pünktlich, dass wir ihr Anliegen besprechen konnten, bevor meine Pause zu Ende war.
Zwar wird sich in meinem Berufsleben nichts daran ändern, dass auch in Zukunft Termine mit der Geschäftsführung in fast allen Fällen Termine mit mir in Outlook überschreiben werden, aber zumindest hab ich einen Anstoß bekommen darüber nachzudenken, wie ich mich in Zukunft ganz persönlich verhalten sollte und will – in Terminen, zwischen Terminen und besonders dort, wo es außer dem einen Chef und seinem Sohn keine weiteren Hierarchie-Ebenen geben sollte: draußen im Leben jenseits der Arbeit.
Gottes Segen und bis zum nächsten Mal,
Euer Daniel
Foto von Ruthson Zimmerman auf Unsplash
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